Der Hahn, der nicht mehr krähen konnte

Die nachfolgende Geschichte entstand, als meine Tochter Lisa mir für eine Gutenachtgeschichte das Stichwort „Der heisere Hahn“ zuwarf.

Es war einmal ein Bauernhof, vor langer, langer Zeit. Der Bauer und die Bäuerin hatten viele Tiere: zwei Kühe, drei Schweine, zwei Ziegen, ein paar Schafe, ein Dutzend Hühner und einen Hahn. Alle lebten glücklich, nur den Hahn hatte seine Probleme. Er krähte nämlich so laut, dass der Bauer schon sehr verärgert war. Eines Tages sagte der Bauer: “Wenn der Hahn weiter so laut kräht, dann müssen wir uns etwas einfallen lassen. Sein Geschrei ist richtig störend!“ Am nächsten Morgen, an einem Mittwoch, zeitig in der Früh, als die Morgendämmerung gerade die aufgehende Sonne erahnen ließ, krähte der Hahn wiederum so laut, dass der Bauer vor Schreck beinahe aus dem Bett fiel. Erbost schrie er: „Bäuerin, jetzt ist es so weit. Ich hab’ genug! Bei der nächsten Gelegenheit muss der Hahn in den Suppentopf!“

Der Zufall wollte, dass am Sonntag der Bürgermeister zu Besuch kommen sollte, und mit ihm der Feuerwehrhauptmann. „Liebe Frau, am Sonntag sollst du den Hahn den Gästen auftischen.“, rief der Bauer. Doch die Bäuerin war nicht so zornig und antwortete: „Wenn der Hahn geschlachtet wird, wer wird uns dann jeden Tag rechtzeitig aufwecken? Und was werden unsere Hennen dazu sagen, dass sie keinen Hahn mehr haben, der auf sie aufpasst und ihnen das Gefühl von Sicherheit gibt? Du weißt doch, dass sie dann weniger Eier legen. Noch dazu müssen wir dann neue Hennen von einem anderen Bauern zukaufen, weil wir keine befruchteten Eier mehr haben!“ Doch all die Argumente nützten nichts, der Bauer ließ sich nicht erweichen, er wollte den Hahn loswerden.

In der kalten, regnerischen Nacht zum Donnerstag jedoch schien sich der Hahn ziemlich verkühlt zu haben. Am nächsten Morgen, als er lauthals krähen wollte, war der Hahn ganz heiser, und aus seiner Kehle kam nur ein leises Krächzen. Der Hahn war sehr verzweifelt und versuchte nochmals wie gewohnt zu krähen. Sein Kopf wurde rot, noch röter als sonst, so sehr strengte er sich an. Die Hühner gackerten aufgeregt und kicherten über die Bemühungen ihres Gockels. Dem Hahn blieb nichts anderes übrig, als seinen Hals zu schonen. Der Bauer hingegen wurde erstmals vom Hahn nicht in seinem Schlafe gestört und schlummerte friedlich weiter.

Als er endlich aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Entsetzt sprang er aus dem Bett und rief: “Frau, steh auf, rasch, rasch! Wir haben verschlafen!“ – Das war eine böse Sache, denn auf einem Bauernhof wartet die Arbeit nicht. Der Bauer musste den restlichen Tag wie im Akkord schuften, um wenigstens einen Teil seiner versäumten Pflichten wieder einzuholen. Am Abend versank er müde in seinem Bett und schlief tief und fest. So konnte er auch am Freitagmorgen den Hahn nicht hören, der noch immer etwas heiser war. Er verschlief also wiederum, und als er zu spät erwachte, packte ihn abermals der Zorn, und er rief: „Der dumme Hahn hat mich schon wieder nicht geweckt! Jetzt muss er erst recht in die Suppe!“ Die Bäuerin hatte alle Hände voll zu tun, um ihren Mann zu beruhigen. „Der Hahn kann es dir überhaupt nicht recht machen. Erst vorgestern wolltest du ihn in die Suppe stecken, weil sein Krähen dich gestört hat, jetzt gibt er Ruhe, und soll trotzdem büßen? Überlege doch, wir könnten bei unseren Hennen dringend Nachwuchs brauchen, denn unsere Eier verkaufen sich gut. Und unser Hahn könnte für Nachwuchs sorgen!“ Der Bauer wurde ein wenig nachdenklich, denn in Geldnöten schwebte er sowieso, und auch sein eigenes Frühstücksei war ihm lieb und teuer. Selbst zum Kuchenbacken brauchte man bekanntlich Eier. Und, wenn er es auch nicht zugab: seine Tiere am Bauernhof liebte er im Grunde genommen genauso wie die Bäuerin.

Als am Morgen zum Samstag die Morgendämmerung kam, und der Hahn nach seiner Verkühlung erstmals wieder richtig krähen konnte, riss es den Bauer wieder aus dem Schlaf. Doch diesmal entfuhr ihm kein Fluch, sondern er murmelte mit einem Lächeln auf den Lippen „Braver Hahn, braver Hahn!“. Und so kam der Hahn am Sonntag doch nicht in die Suppe.

© Peter Lorenz Karanitsch 2020

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