Die folgende Lyrik entstand 2020 während meiner Lehrtätigkeit an einer Schule im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Fertigstellung 2022.

Zug Nachhause

Um mich herum tost der Verkehr,
die fremde Stadt ist groß und laut.
Angst treibt mich voran,
und dunkle Gedanken plagen.
Im Nebel der Erinnerung
sehe ich bloß die Sanitäter.

Ich gebe zu, man hat mir sehr geholfen.
Am Unfall war ich selbst wohl schuld.
Tunlichst habe ich dies verschwiegen,
hab‘ mich zu sehr dafür geschämt.
Ich hatte einfach Pech,
waren alle Helfer überzeugt.

Hierher zu kommen war ein Fehler,
doch mein Traum, er hält mich fest.
Ich fühl‘ mich einsam und verlassen,
die Menschen sind mir fremd,
sie sprechen eine andere Sprache,
verstehen meine Sorgen nicht.

Als Kind bin ich schon gerne Zug gefahren,
in eine Welt befreit von allen Zwängen.
Irgendwas hat sich in mir verändert,
das Umfeld war mir nie so fremd wie jetzt.
So bin ich nun am Weg zum Bahnhof
zum ersehnten Zug nachhause.

Wie in Trance schreite ich voran,
wohin soll ich mich denn wenden?
Eine Frau kreuzt meinen Weg,
an ihrer Hand ein kleines Kind.
„Können Sie mir bitte helfen?“
Die Frau, sie runzelt bloß die Stirn.

Das Kind an ihrer Hand
schaut mich verwundert an.
Zögernd hebt es seine Hand,
weist auf die andre Straßenseite.
Es hat mich wohl verstanden,
auf wundersame Weise.

Im Traum erreiche ich den Bahnhof,
in der Halle herrscht Gedränge.
Drüben stehen Menschen Schlange,
warten an den Schaltern.
Schön ist der Klang der fremden Sprache.
Meine Fahrkarte, wie billig sie doch ist!

Bahnsteig elf ist eingeprägt, und 19 Uhr.
Über den Zugängen sehe ich die Tafeln.
Die Nummer elf ist nicht dabei.
Ich muss wohl fragen. Ungern.
Ich kann die Sprache nicht.
So zeige ich wortlos meine Karte.

Stumm und freundlich nickt der Mann,
er deutet hinüber auf die andere Seite.
Ein Durchgang, über ihm das Schild.
Die zweite Ziffer ist wohl abgefallen,
Bloß ihr Abdruck ist noch da.
Was ist das für ein Land?

Um mich herum sind viele Menschen,
sie kommen wohl vom Dienst,
und fahren nun nach Hause.
Der Menschenstrom weist mir den Weg.
Vorbei an einigen Geschäften,
Treppen hinab in einen schmalen Gang.

Wenig Leute sind nun hier,
sie scheinen viel mehr Zeit zu haben.
Eine halbe Stunde noch zur Abfahrt!
Ich beschleunige den Schritt,
mein Rucksack stößt an eine Frau.
Sorry, I am hurrying to the train!

Ein Gang, schmal, mit fahlem Neonlicht,
Plakate an den Wänden, schmutzig und vergilbt.
Ein Theaterplan, so alt wie ich. Wieso?
Rechts, wie seltsam, ein Fleischerladen,
ich sehe die weiß gekleidete Gestalt
und das rohe Fleisch in der Vitrine.

Dann ein Geschäft, es prägt sich ein,
Schlüsselanhänger mit bunten Steinen.
Sodann ein großer Raum, fast eine Halle,
ein breites Tor aus mattem Glas,
draußen menschliche Gestalten.
Ich schöpfe Hoffnung.

Doch das Tor, es ist versperrt.
Angst kriecht in mir hoch.
Wo ist mein Rucksack?
Ich weiß es nicht, wie dumm.
Ich eile weiter, bis ans Ende.
Eine Tür aus Blech, fast wie in einem Keller.

Ich trete hinaus auf einen Bahnsteig.
Schmal zieht er sich entlang der Wand,
über den Gleisen ein Ziegelgewölbe,
wie in einer U-Bahn-Station.
Schienen, mannstief unten, braun und rostig.
Hier ist schon lange nichts gefahren.

Ich stolpere über den nackten Beton,
die Schritte hallen wie ein Echo.
Ein Exit-Schild weist mir dem Weg
ans andere Ende des verstaubten Stegs.
Durch eine dunkle, schwere Tür
trete ich hinaus – ins Freie.

Erstaunt stehe ich auf einem Platz,
atme durch nach dem muffigen Gestank.
Ein Baum, darunter Bänke, und der Himmel.
Das Abendlicht taucht alles in ein zartes Rosa.
Zwei Männer kommen langsam auf mich zu,
leise miteinander plaudernd.

“Excuse me, can you help me?”
Ich zeige dem einen meinen Fahrschein,
Er nickt bedächtig, spricht zu mir,
doch ich verstehe kein Wort.
Ich bemerke schlechte Zähne.
Hätte ich doch den anderen gefragt!

Er ist der Jüngere, und gut gekleidet,
lächelt freundlich mit den Worten,
er wisse ganz genau, wohin ich will
und wolle mich begleiten.
Ich möchte jubeln, ihn umarmen,
er spricht in meiner Sprache!

Wir überqueren den friedlichen Platz,
gehen bergan in eine Gasse.
Häuser stehen links und rechts,
und Bäume an der rechten Seite.
Dunkel ist es schon geworden,
fürchte, ich erreiche den Zug nicht mehr.

Mein Begleiter spürt die Sorge,
beschleunigt seinen Schritt.
Schnell geht er nun, sehr schnell,
ich mühe mich, den Schritt zu halten.
Es geht bergauf, ich schnaufe.
Die Gasse hat kein Ende.

Und nun beginnt er fast zu laufen,
woher hat er bloß die Energie?
Ich keuche, langsam falle ich zurück,
stetig wird der Abstand größer.
Die Gestalt vor mir –
dreht sich nicht um.

Im Laufschritt blicke ich zu Boden,
betrachte meine Füße, Schritt für Schritt.
Immer schmäler wird die Straße,
Links und rechts erscheinen Schienen.
Hoffnung keimt in mir,
jetzt habe ich das Ziel vor Augen.

Seltsame Ruhe breitet sich nun aus,
alle Angst ist abgefallen.
Ich sehe wieder meine Füße
schreiten über braune Schwellen.
Hinter mir der Zug, die Schienen singen.
Es ist so weit. Es ist mein Zug Nachhause.

© Peter Lorenz Karanitsch, 2020/2022

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