Der alte Sepp – eine Weihnachtsgeschichte

Mit dem richtigen Namen hieß der alte Sepp natürlich Josef. Josef Steiger, wie auch schon sein Vater, Großvater und Urgroßvater, alle hießen Josef. Seit mindestens vier Generationen lebten die Steigers hoch oben am Berg in ihrem Bergbauernhof, und die Alm rundherum hieß natürlich Steigeralm. Der alte Sepp gehörte also zur letzten Generation, die den Steigerhof bewirtschaftete. Er und seine Frau hatten den Hof und die Alm über viele Jahre tadellos in Schuss gehalten, obwohl sie sonst kaum Unterstützung gehabt hatten. Ihre Kinder waren schon vor Jahrzehnten in die Stadt gezogen, hatten dort ihre Familien gegründet und konnten ein modernes und anspruchsvolles Leben führen. Sepp konnte es ihnen nicht verdenken, dass sie den Hof nicht weiterführen wollten. Trotz einer gewissen Enttäuschung darüber war er stolz auf seine Kinder – und auch dankbar, hatten sie doch dafür gesorgt, dass der Steigerhof bereits vor Jahren einen Anschluss an das Stromnetz bekommen hatte.

Die Leute unten im Dorf hatten den alten Sepp schon immer geschätzt, besonders, wenn er nach der Sonntagsmesse mit ihnen im Wirtshaus beisammengesessen war und gut gelaunt ein paar Witze erzählt hatte, auch, wenn er den Kindern mit seinen Schauergeschichten über den sagenhaften Schneemenschen das Gruseln beigebracht hatte.

Doch im heurigen Jahr hatte sich alles schlagartig verändert. Im zeitigen Frühjahr hatte sich seine Frau eine böse Grippe eingefangen. Anfangs war es nicht so schlimm erschienen, doch am zweiten Abend hatte sie sehr hoch gefiebert, und da war es zu spät gewesen, den Arzt zu holen. Am Morgen war sie tot im Bett gelegen. Es musste nach fast 50 Jahren glücklicher Ehe ein schrecklicher Schlag für Sepp gewesen sein. Aus dem fröhlichen, ja lustigen Bauern war über Nacht ein gebrochener Mann geworden, der sich in Selbstvorwürfen zerfraß. Hätte er doch bloß gleich am ersten Tag den Arzt geholt! Von da an war Sepp ein wortkarger Sonderling geworden, der kaum noch mit anderen Leuten sprach, der alle Einladungen ausschlug und sogar gutgemeinte Hilfsangebote nicht annehmen wollte. Selbst seine Verwandten aus der Stadt wollte er nicht mehr sehen, vor allem, seit sie ihm vorgeschlagen hatten, er möge doch bei ihnen in der Stadt in ein schönes Altenheim ziehen.

Nun war er also ganz allein auf seinem Hof und musste alles selbst erledigen. Die Arbeit, der er bisher mit Freude und Stolz nachgegangen war, war zur Schufterei geworden, vieles blieb jetzt liegen, weil er einfach nicht mehr schaffen konnte, was zu tun war. In der Nacht wälzte er sich manchmal im Bette hin und her und musste an die vielen unerledigten Dinge denken. So war ihm auch nichts anderes übriggeblieben, als im Sommer etliche Stück Vieh zu verkaufen und die Alm zu verpachten. Ein kleines Stück Land blieb ihm noch, und natürlich auch das Bauernhaus. Es stand stolz auf einer Erhebung über der Alm, mit seinem dunkel gewordenen Holz zeugte es von der jahrzehntelangen Präsenz der Steigers. Schon von weit unten, wo der Wald in die Almwiesen übergeht, war es deutlich sichtbar und bildete einen markanten Kontrast zu den grauen, dahinter liegenden Felsen des Bergmassivs. Sepp war stolz darauf, und er hätte dieses Haus und dieses Stück Land niemals freiwillig verlassen, auch wenn es jetzt mit traurigen Gedanken behaftet war. Und so saß er abends allein an dem alten Holztisch in der Stube und hörte ein wenig im Radio, was sich in der Welt so zutrug. Vieles davon war nicht erfreulich, und es bestärkte ihn im Bewusstsein, dass sein einsames Leben weit weg von diesen Geschehnissen doch nicht so übel war. Die Eckbank in der Stube war der schönste Ort im ganzen Haus, denn hier war der Herrgottswinkel, wo er eine Kerze für seine geliebte Frau entzünden konnte. Und vor allem hing hier an der Wand das alte Hochzeitsbild, und er konnte jeden Abend in die wunderbaren blauen Augen seiner Frau schauen.

Sepp war also nun der Einzige, der auf dem Berg wohnte, abgesehen vom Schneemenschen, der nach einer altbekannten Sage angeblich im „Hinteren Tal“ leben sollte – doch den hatte noch nie jemand gesehen. Die einzige Gesellschaft für Sepp waren seine zwei noch verbliebenen Kühe, zwei Schweine und einige Hühner. Selbst im Sommer kam ganz selten mal ein Wanderer an seiner Hütte vorbei. Am Hang hinter dem Haus baute Sepp Gemüse und Kartoffeln an. Dank seiner Tiere und dem kleinen Anbau war der alte Sepp mit den wichtigsten Nahrungsmitteln versorgt. Nur einmal in der Woche musste er in die Ortschaft hinunterwandern, um sich mit Brot, Mehl und einigen anderen Lebensmitteln zu versorgen. Allzu viel wollte er sich nicht leisten, denn er war sparsam, und schließlich mussten ja alle Einkäufe mühsam den langen Weg herauf geschleppt werden.

Nun war es wieder so weit, und Sepp schrieb sich vorsorglich eine Einkaufsliste. Diesmal war sie etwas länger, denn morgen war Weihnachten, und da wollte er doch ein paar zusätzliche Sachen besorgen.

Der alte Sepp musste bereits am frühen Vormittag ins Tal hinunter aufbrechen, denn der Abstieg über den schmalen Pfad dauerte über zwei Stunden und der Aufstieg beinahe doppelt so lange. So packte Sepp seinen Rucksack, gleich nachdem er sein Vieh frühmorgens versorgt hatte, und machte sich auf den Weg. Der Pfad führte zunächst über eine flache Almwiese, die schon seit Anfang November verschneit war, gelangte dann zu einem steileren Abhang, und nach einer halben Stunde erreichte man schließlich den oberen Waldrand. Von dort schlängelte sich der Weg über etliche Serpentinen hinab, zwischen uralten Bäumen hindurch, bis man schließlich über ein flaches Stück ins Dorf gelangte.

Als Sepp das Tal erreichte, spürte er bereits die Müdigkeit in den Beinen. Es machte sich bemerkbar, dass er nicht mehr der Jüngste war, und seit dem Tode seiner Frau hatte er überhaupt nicht mehr jene Energie, die er früher einmal gehabt hatte.

Mit solchen Gedanken stieg er die Stufen zu dem kleinen Greißlerladen hinauf, öffnete die Tür und trat in das warme Innere. „Hallo Sepp!“, rief die Greißlerin, „Schön dich zu sehen! Frohe Weihnachten!“ Sogleich hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen, denn sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass Sepp seit wenigen Monaten Witwer war – und die ersten Weihnachten ohne seine Frau konnten wohl nicht besonders froh sein! So gab sie dem alten Mann zusätzlich zu seinem Einkauf noch ein wenig von verschiedenen Weihnachtsbäckereien dazu, und sogar eine Flasche Wein überreichte sie ihm, die sie selbst von einem Kunden geschenkt bekommen hatte. Der alte Sepp spürte die Zuneigung der Kaufmannsfrau, bedanke sich gerührt und packte alles, nachdem er bezahlt hatte, in seinen Rucksack.

Als er wieder auf die Straße trat, bemerkte er, dass sich der Himmel mit grauen Wolken überzogen hatte. Es sah ganz nach Schnee aus! Für die Stadtmenschen mochte die Aussicht auf frischen Neuschnee zu Weihnachten sehr erfreulich sein, für einen Bergbauern bedeutete dies aber zusätzliche Mühen, ja Gefahren. Für Sepp hieß es nun, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen, denn er wollte keinesfalls in tiefem Neuschnee bergauf stapfen, um zu seinem Haus zu kommen. Als er den Waldrand erreichte, fielen bereits die ersten Schneeflocken aus den Wolken. Hoffentlich wurde der Schneefall nicht dichter und er konnte noch rechtzeitig sein Haus erreichen!

Auf dem Weg durch den Hochwald kam Sepp zunächst noch recht rasch voran, doch nach einer Stunde Aufstieg schien ihm sein Rucksack immer schwerer zu werden und seine Schritte wurden immer langsamer. Bei einem Felsen, der einst wohl den Berghang herabgestürzt war, musste er sich auf den Boden setzen und ein wenig verschnaufen. Aus der Ferne hörte er die Kirchenglocken aus dem Dorf, die zur Andacht riefen. Und da war noch etwas anderes, das ihm jetzt auffiel, etwas Bedrohliches: In den Baumwipfeln heulte schon der Wind und Nebelfetzen verdunkelten den Himmel. Das war kein gutes Zeichen! Sepp sprang auf, schulterte seinen schweren Rucksack und stieg wieder bergan. Er musste wenigstens die steile, gefährliche Stelle hinter sich bringen, dort, wo der Weg ins „Hintere Tal“ abzweigt, das zu diesen Zeiten kein vernünftiger Mensch betreten würde.

Als der alte Sepp den Waldrand erreichte, heulte ihm der Schneesturm entgegen, die Sicht war so schlecht, dass man kaum die ausgestreckte Hand vor sich erkennen konnte. Obwohl er die Gegend kannte wie seine Westentasche, packte ihn nun die Angst. Der Weg war schon vom Neuschnee verweht und nicht mehr zu erkennen und zu allem Überdruss brach auch schon die Dunkelheit herein. Kurze Zeit überlegte er, umzukehren und wieder ins Dorf hinunterzugehen – doch dann dachte er an seine Tiere, die womöglich erfrieren oder verhungern würden, wenn er tagelang nicht mehr zurückkehren konnte. Er musste nur die Abzweigung finden, die nach links über die Alm zu seinem Hof führte! Sepp stapfte durch den Schnee, bis ihn seine Kräfte verließen und er verzweifelt in den Schnee sank. Ahnungslos, wie lang er umhergeirrt war, schloss er bereits mit seinem Leben ab. Er musste doch ins Hintere Tal geraten sein!

Plötzlich sah er nicht weit entfernt einen schwachen Lichtschimmer. Was konnte das sein? Außer seinem Haus gab es am ganzen Berg keine Hütte und bei ihm zu Hause konnte ja kein Licht brennen! So unheimlich dieses Licht war, es schien doch seine letzte Hoffnung zu sein. Langsam stapfte er den Abhang hinab in eine flache Talmulde, aus der das flackernde Licht heraufdrang. Bald bemerkte Sepp auch den Geruch von Feuer. Was konnte das sein? Aus dem Nebel tauchte im Gegenlicht des Feuers der Umriss einer Gestalt auf, die vor dem Feuer saß. „Hallo! Wer ist denn da?“, rief der alte Sepp. Die Gestalt erhob sich und richtete sich zum Entsetzen Sepps zu einer unglaublichen Größe auf. Im Schneegestöber konnte Sepp undeutlich erkennen, dass sie von einem langen zotteligen Fell bedeckt war. Es war wohl der Schneemensch, von dem die Sagen schon seit Jahrhunderten berichteten. Der Schneemensch, den noch nie jemand gesehen hatte! Dem Sepp wurde schwarz vor den Augen und er sank bewusstlos zusammen.

Jedermann weiß, dass man in der Kälte eines Schneesturmes nicht einschlafen darf und bewusstlos werden darf man schon gar nicht. Doch wie sonderbar es für den alten Sepp war! Er fühlte den Schneesturm gar nicht, auch nicht die beißende Kälte! Ihm schien es wohlig warm und seine Bewusstlosigkeit ging in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung über.

Stunden später, als der Schneesturm bereits nachgelassen hatte, wurde dem alten Sepp kalt und er erwachte. Da merkte er, dass er nahe am Feuer gelegen war, das nun langsam niederbrannte. Jemand hatte ihn wohl dorthin getragen! Um seine Schultern lag ein dickes Fell und sein prall gefüllter Rucksack stand noch direkt neben ihm. Wie war es möglich, dass er die eisige Nacht überlebt hatte, und wer hatte ihm das Leben gerettet? War es der Zottelmensch, den noch nie jemand gesehen hatte? Das konnte doch nicht sein, er musste wohl geträumt haben!

Als Sepp seinen Rucksack wieder aufnahm, fühlte er ihn federleicht, und die Welt schien sich um ihn zu drehen. Nahm der Traum denn gar kein Ende? Mit seltsam leichten Beinen machte er sich auf zu seiner Hütte. Der frisch gefallene Tiefschnee bereitete ihm keinerlei Mühe, es schien ihm, als würde er schweben. Wie seltsam! Rauch lag in der Luft, als er der Hütte näherkam. Hell war jetzt das Licht. Sepp trat ein, wohlige Wärme umarmte ihn, und er blickte in diese wunderbaren blauen Augen.

© Peter Lorenz Karanitsch, Dezember 2002 / Dezember 2021

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