Der Weihnachtsbrief für Leseratten

Liebe Schulkameraden!

Jetzt verbringe ich schon die zweiten Weihnachten hier auf unserer Forschungsstation am Mond. Ich kann es kaum glauben, dass es erst drei Jahre her ist, dass meine Eltern das Angebot zu einem Forschungsaufenthalt hier heroben erhalten haben. Ich bin sicher, dass ich damals euch gegenüber sehr prahlerisch gewesen bin, es tut mir richtig leid und ich möchte mich aufrichtig entschuldigen. Aber es war einfach eine unglaubliche Situation. Vor allem, weil meine Schwester und ich Teil des Projekts sein sollten. Die ganze Familie sollte Erfahrungen sammeln, wie es Menschen geht, wenn sie in ein oder zwei Jahrzehnten die Reise zum Mars antreten und dort eine Siedlung gründen. Ich erinnere mich an endlose Diskussionen, ob wir es wirklich machen sollten, was dafür spricht und was dagegen. Vor allem ging es um uns Kinder. Ob man uns das zumuten soll und so weiter. Aber wir Kinder waren natürlich mit Begeisterung dafür. Rückblickend betrachtet waren wir vielleicht etwas verblendet von der Aussicht auf den aufregenden Raketenstart und auf fantastische Erlebnisse, die uns vielleicht erwarten würden. Ihr erinnert euch sicher an den riesigen Medienrummel um unsere Familie, an die Interviews und die Talkshows im Fernsehen.

Tja, jetzt bin ich also hier, am Rande des „Meeres der Ruhe“, einer riesigen Ebene am Mond. Angeblich keine 100 Kilometer entfernt von dem Ort, wo 1969 Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betreten hatte. Was hätte er wohl gesagt, wenn er zu Lebzeiten den Bau der internationalen Forschungsanlage miterlebt hätte? Noch dazu unweit von jener Stelle, wo er die amerikanische Flagge in den Boden gerammt hatte.

Groß ist die Forschungsstation nicht, von außen muss sie mit ihren kleinen Fenstern wie ein Bunker wirken. Und da bin ich also eingesperrt. Hinaus kann man nicht, draußen herrscht ja ein Vakuum, und das würde man keine zehn Sekunden überleben. Anfangs war alles total aufregend, aber nach einiger Zeit ist es nicht so toll, ja eigentlich sogar viel schlimmer als gedacht. Ich glaube, meine Schwester und meine Eltern empfinden das mittlerweile genauso, auch wenn sie es nicht zugeben. Wenn ich nicht von der Schule gestresst bin, ist es eigentlich langweilig. Man weiß nicht recht, was man anstellen kann, viele Möglichkeiten gibt es nicht. Zumindest für uns Kinder. Jedenfalls habe ich mich entschlossen, euch einen Brief zu schreiben. Und zwar einen richtigen Brief! So wie man es früher gemacht hat. Einen Brief, echt handgeschrieben, auf einem hellblauen, schönen Papier – und ich habe vor, ihn in ein passendes Kuvert zu stecken, es entgegen allen Vorschriften zuzukleben, und eine Briefmarke drauf zu picken. Abgeschleckt natürlich!

Ihr werdet euch fragen: Warum mache ich das bloß? Klar habe ich einen konkreten Hintergedanken, dazu aber später. Überdies ist es eine willkommene Abwechslung, auch wenn es ziemlich retro ist. Ich bin das ständige Herumtippen auf dem Computer leid. Und das lästige Distance-Learning hasse ich mittlerweile wie die Pest. Diese blöden Meetings, das ruckelige Bild, die Zeitverzögerung. Ich bin so froh, dass jetzt die Weihnachtsferien beginnen! Ich fürchte, ich bin in letzter Zeit manchmal in eine depressive Stimmung verfallen. Es ist echt ätzend, nicht hinauszukönnen. Mir wird auch immer mehr bewusst, wie sehr Ihr mir abgeht!

Ich habe eine Weile überlegt, womit ich meinen Brief schreiben soll. Zuerst habe ich nach dem Kugelschreiber gegriffen, aber ich finde, der passt nicht so richtig zu dem eleganten Papier. Mir ist eingefallen, dass ich bei meinen Schulsachen noch eine echte Füllfeder haben müsste. Aus grünem, schillerndem Kunststoff, mit einer goldenen Spitze! Aber Tinte war keine drin. Hätte ich vielleicht mit meinem Blut schreiben sollen? Das wäre mal was anderes gewesen, echt persönlich, haha. In der Küche habe ich schließlich eine Dose grüne Lebensmittelfarbe gefunden. Wundert euch nicht, das ist ein Standardprodukt bei uns fürs Kochen. Mama gibt den Speisen damit immer so eine coole Farbe. Also, ein bisschen Wasser, Farbe auflösen, und in die Füllfeder aufziehen. Man muss hierzulande leider immer improvisieren. Es funktioniert besser als gedacht und schaut gar nicht schlecht aus. Wenn da nicht meine schlampige Schrift wäre.

Ihr habt sicher schon herausgelesen, dass mir nicht nur fad ist, sondern dass ich mich auch ziemlich einsam fühle. Trotz all der Technik, dem Satellitenfernsehen, dem Internet, trotz unserer Kontakte über Computer und soziale Netzwerke. Ich sag‘ euch, das ist alles kein Ersatz. Immer in einen Monitor starren – ich glaube, ich habe schon viereckige Augen. Sogar zum Lesen gibt es bei uns nur so ein blödes Tablet. Zu Weihnachten wünsche ich mir ein echtes Buch. Eines, das man in die Hand nehmen kann, mit Seiten aus Papier, in die man ein Eselsohr knicken kann, als Lesezeichen. Irgendeinen spannenden Krimi hätte ich gerne, oder – noch besser – etwas Lustiges. Das Einzige was ich garantiert nicht will, ist ein Science-Fiction-Roman mit einer Weltraumstation, die durchs Universum zur nächsten Galaxie rast. Dafür habe ich, wie Ihr euch vorstellen könnt, keinen Bedarf.

Vorige Weihnachten waren übrigens super: Meine Eltern haben mich mit einem Himmelsglobus überrascht. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist es nämlich, aus dem Fenster zu blicken und die Sterne zu bewundern. Meine Eltern haben das natürlich bemerkt. Dank meines Globus kann ich mittlerweile schon die meisten Sternbilder auswendig. Da drüben ist zum Beispiel der Orion. Die alten Griechen haben in dem Sternenbild den riesenhaften Jäger Orion gesehen. Die griechische Mythologie erzählt viele Geschichten über ihn, und in jeder wird er am Ende in den Himmel versetzt. In einer sternenklaren Nacht solltet ihr den Orion in südlicher Richtung leicht finden. Wenn man seine Hauptsterne mit gedachten Linien verbindet, schaut er aus wie ein großes „X“, oder eher wie ein geknicktes „H“ mit einem kurzen, schrägen Querstrich aus drei nebeneinander liegenden Sternen. Die nennt man den Gürtel des Orion. Nach unten folgen ein paar Sterne, das Schwert des Orion. Am linken oberen Ende des „H“ ist der Beteigeuze, ein rötlich schimmernder Riesenstern. Also, der soll ja wirklich riesig sein! Ungefähr 800mal so groß wie unsere Sonne. Seine Helligkeit schwankt geheimnisvoll, in letzter Zeit ist er viel dunkler geworden. Forscher glauben, er hat eine riesige Gas- und Staubwolke ausgespuckt, die ihn verdunkelt. Keiner weiß, warum. Ich glaube eher, er ist schon alt und krank. Vielleicht haucht er bald sein Leben als Supernova aus. Jedenfalls ist dieser rote Überriese mein Lieblingsstern geworden. Er ist der einzige Stern, den man mit einem Teleskop von der Erde aus als Scheibe sieht und nicht wie alle anderen Sterne nur als Punkt. Das will ich unbedingt selbst sehen, deshalb wünsche ich mir heuer zu Weihnachten auch ein Teleskop. Dann schaue ich mir auch den Orionnebel genauer an. Der liegt im Schwert des Orion. In Wirklichkeit ist es ein Gebiet, in dem dauernd neue Sterne entstehen, und ihre Strahlung lässt gigantische Wasserstoffwolken rötlich leuchten. Das ist sogar mit dem Fernglas faszinierend, wie wird das erst mit dem Teleskop sein!

So. Und jetzt zur echten Sensation: Heuer kriegen wir tatsächlich einen echten Weihnachtsbaum – keinen aus Plastik, sondern einen richtigen, lebenden Baum, also mit Wurzeln. Wir werden ihn einsetzen und hoffen, dass er bis zu den nächsten Weihnachten überlebt. Ich freue mich jedenfalls auf den Duft der Tannennadeln! Hoffentlich wird der Baum rechtzeitig geliefert, bevor es dunkel wird. Früher habe ich mich immer vor der Dunkelheit gefürchtet, aber das habe ich überwunden, weil ich mittlerweile weiß, woran es liegt, dass es dunkel wird. In ein paar Stunden beginnt die Weihnacht, draußen werden jetzt die Schatten immer länger, und wir stellen uns wieder mal auf eine lange, extrem kalte Nacht ein. Das ist die Zeit, in der draußen die staubige Mondlandschaft in ein fahles Licht getaucht ist, das von der Erde reflektiert wird. Vierzehn Tage müssen wir durchhalten. Ich würde euch gerne mit einer starken Taschenlampe winken!

Gott sei Dank klappt unser Familienleben überraschend gut, obwohl wir alle eingesperrt sind. Das liegt wohl auch daran, dass Mama nicht nur Ärztin ist, sondern auch Psychologin. Leider ist sie ziemlich oft lästig, weil sie dauernd unser Gewicht, den Blutdruck und die Sauerstoffsättigung im Blut misst. Was ich gar nicht mag, ist das Blutabnehmen. Sie macht das zwar echt gut, trotzdem trau ich mich noch immer nicht, hinzusehen. Wenn alles vorbei ist, zieht sie sich in ihr Labor zurück und muss alles protokollieren. Seit einiger Zeit verlangt sie, dass ich mich einmal in der Woche in der Krankenstation aufs Bett lege, und sie kommt mit dem Ultraschallgerät und misst irgendetwas an meinen Knochen. Sie tut zwar so beiläufig, aber ich glaube, sie macht sich Sorgen. Letztens habe ich meine Eltern belauscht und mitgekriegt, dass sich meine Bandscheiben ausgedehnt haben. Das könnte ein Problem bei der Rückkehr zur Erde werden. Langsam komme ich mir vor wie ein Versuchskaninchen.

Unsere Familie hat übrigens von Anfang an eine wichtige Vereinbarung: Wir leben exakt nach dem Kalender und nach dem Zeitrhythmus auf der Erde. Überall hängen Uhren mit digitaler 24-Stunden-Anzeige. Dem Supertechniker Papa ist es gelungen, mit automatischen Fensterjalousien und verschiedenfärbiger Beleuchtung einen Tag-Nacht-Rhythmus nachzuahmen. Und wer hatte die Idee dazu? Natürlich die Psychologin Mama.

Unser Alltag ist eher monoton. Obwohl wir alles haben, was für Abwechslung sorgen kann. Ein Highlight ist sicher unser Fitnessraum. Vom Laufband bis zur Kraftstation ist alles da. Papa trainiert besonders fleißig, er hat eine super Kondi und Mama sagt, sie liebt es, wenn er verschwitzt aus der Kraftkammer kommt und seinen schweißglänzenden Waschbrettbauch herzeigt. Igitt!

Für mich ist das Zeug im Fitnessraum eher mühsam. Die Geräte dort machen nicht so viel Spaß. Mein Lieblingssport war immer das Trampolinspringen, aber das geht bei uns nicht, weil ich bei der geringen Schwerkraft viel zu hoch springen würde. Und Swimmingpool gibt es auch keines, weil wir zu wenig Wasser haben. Logisch. Am ehesten nehme ich noch das Laufband, weil da ist zum Filmeschauen ein Monitor eingebaut.

Mama hat übrigens versprochen, dass wir heute ein echtes Festtagsessen bekommen. In diesen Zeiten ist es nicht so einfach, etwas Gutes auf den Tisch zu stellen. Die meisten Sachen haben wir eingefroren. In der Küche steht zwar ein Tiefkühlschrank, aber wir können mit einer zusätzlichen großen Speisekammer an der Schattenseite unseres Hauses protzen. Da drin sind Lebensmittel für mindestens drei Monate – und das bei Temperaturen, für die eine normale Tiefkühltruhe wie ein kleiner Heizofen ist.

Vielleicht gibt’s heute Abend Schnitzel. Ich lechze nach einem Stück saftigen Schweinefleisch, eingehüllt in goldbraune, knusprige Panier! Wie gerne würde ich euch einladen. Besonders Dich, lieber Mohammed. Ich würde dich gerne an dem guten Stück riechen lassen. Weil essen darfst du es ja nicht, bist halt selbst ein armes Schwein!

So, jetzt schäme ich mich. Ich habe aus den Nachrichten mitgekriegt, dass sich die Xenophobie weltweit immer mehr verbreitet. Echt schlimm, diese Fremdenfeindlichkeit! Und ich habe mich jetzt zu einem blöden Witz hinreißen lassen. Du, lieber Mohammed, bist eh ein lieber Kerl und gehörst mittlerweile voll zu uns. Hoffentlich habe ich dich mit diesen Zeilen nicht verletzt. Aber was liegt, das pickt. Ich kann es nicht mehr weglöschen. Tintenkiller hab ich keinen, und ob der bei der Lebensmittelfarbe funktionieren würde, wäre ohnedies höchst ungewiss. Also sorry, war nicht so gemeint!

Jedenfalls kannst du sicher sein, dass du mein bester Freund bist. Nicht umsonst adressiere ich meinen Brief an dich. Mit großem Vertrauen übrigens. Ich möchte dich nämlich bitten, dafür zu sorgen, dass alle meine Kameraden und Freunde den Brief persönlich in die Hände kriegen und vor allem das, was ich dem Brief beilegen werde. Ein besonderes Weihnachtsgeschenk nämlich. Vielleicht kann ich damit meine Hochnäsigkeit von früher wieder gutmachen. Wenn mein Plan gelingt.

So, meine lieben Freunde, mir tun die Finger vom Schreiben weh. Ich muss jetzt eine Pause machen. Außerdem ist es jetzt so weit. Papa ist gerade in die Technikzentrale gegangen, meine Schwester schläft und Mama brütet in ihrem Büro über den ärztlichen Befunden. Meine Nerven beginnen zu kribbeln. Jetzt ist Bahn frei für meine lang geplante Aktion. Ich erkläre es euch dann nachher…

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So, da bin ich wieder. Die Füllfeder ist neu gefüllt, diesmal auch mit ein paar Tropfen Spülmittel. Jetzt geht’s noch besser. Leute, meine angekündigte Aktion war katastrophal peinlich, aber ich habe jetzt, was ich wollte.

Ihr fragt euch sicher, was da los ist und wo ich jetzt wohl war. Lacht bitte nicht. Ich war gerade auf unserem Kartoffelacker. Ihr seid jetzt wohl überrascht, dass wir hier oben so etwas haben. Der Kartoffelacker, müsst Ihr wissen, der ist unser absolutes Goldstück. Er ist nicht besonders groß, aber gut geschützt und aufwändig klimatisiert. Heuer im Frühjahr haben wir mit dem Experiment begonnen, eigene Kartoffeln zu züchten. Ich war selbst mit Begeisterung dabei, als wir die schrumpeligen Erdäpfel in der Erde vergraben haben. Und wie durch ein Wunder sind dann tatsächlich die grünen Pflanzen hervorgekommen. Wahrscheinlich dank des Spezialdüngers. Da waren angeblich auch irgendwelche Mikroorganismen drin. Jedenfalls haben wir damit Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Zum ersten Mal sind im toten Boden des Mondes lebende Organismen gewachsen! Ein paar Jahrmilliarden hat der Mond zuschauen müssen, wie da drüben auf der Erde das Leben gedeiht, und jetzt kitzeln ihn die Wurzeln unserer Pflanzen!

Wollt ihr wissen, warum ich vorhin so nervös war, wenn ich doch eh nur auf einen Acker gehen wollte? Nun, meine Eltern sind total stolz auf das Experiment, sie hüten den Kartoffelacker wie ihre Augäpfel, und sie sehen es nicht besonders gerne, wenn wir Kinder dort umherstreifen. Es ist nicht gerade verboten, dorthin zu gehen, nur nicht gerne gesehen. Meine Eltern tolerieren es, damit sich mein Bewegungsradius ein bisschen vergrößert. Ich liebe nämlich den Duft der Erde, und besonders schön ist es, wenn man durch das Glasdach in den Himmel schaut. Allerdings ist das, was ich heute dort gemacht habe, garantiert nicht im Sinne meiner Eltern.

Lasst euch also schildern:

Kaum war vorhin die Luft rein, legte ich die Füllfeder weg, schlich leise auf den Zehenspitzen durch die Wohnräume und die Treppe hinunter, immer in der Angst, dass irgendetwas knarrt oder plötzlich jemand vor mir steht. Das Licht einzuschalten wagte ich natürlich nicht. Im Untergeschoß gibt es den Zugang zu einem langen Verbindungsgang, vorsichtig tastete ich mich im Finsteren voran. Zaghaft öffnete ich die Tür – und erschrak beinahe zu Tode, als das automatische Licht aufflackerte. Mit Herzklopfen lief ich durch den schmalen Gang, er schien heute kein Ende zu nehmen. Atemlos blieb ich schließlich vor der Stahltür stehen. „Immer geschlossen halten!“ stand da, und tatsächlich gibt es eine dämliche Alarmanlage an dieser Kartoffelackertür, damit man ja nicht vergisst, sie zu schließen. Es erfordert jedes Mal einige Kraftanstrengung, dieses schwere Trumm zu öffnen. Das Schlimmste aber ist der schrille Alarm, der ertönt, solange die Tür geöffnet ist. Doch diesmal war mir der Ton durch Mark und Bein gegangen, wohl wegen meiner Aufregung. Ich konnte nur hoffen, dass es niemand gehört hatte. Hauptsache, ich war jetzt drin.

Drinnen oder draußen? Ich wüsste gar nicht, welcher Ausdruck der bessere wäre. Es ist der einzige Ort, wo man wegen des Glasdachs das Gefühl bekommt, ein bisschen draußen zu sein. Jedenfalls stand ich jetzt inmitten etlicher grüner Reihen unzähliger Kartoffelpflanzen, atmete den Duft der Natur. Ein Stückchen noch ging ich weiter, zu einer besonders schönen Pflanze. Irgendwie verließ mich dann aber plötzlich der Mut. Sollte ich es wirklich wagen? Mit flauem Gefühl im Magen bückte ich mich, schaute prüfend in alle Richtungen. Und dann … mit brennender Neugier riss ich die Pflanze mit einem kräftigen Ruck heraus. Wenn meine Eltern das gesehen hätten, die hätten mich wohl zu Schweinsschnitzeln verarbeitet! Keuchend betrachtete ich das Wurzelwerk, und tatsächlich hingen da unten ein paar Knollen dran.

Genüsslich roch ich den modrigen Duft der Erde. – Da packte mich plötzlich von hinten eine kalte Hand! Ich wirbelte herum und vor mir stand, wie aus dem Nichts aufgetaucht, meine Mutter. Wie sie ohne Alarm auf den Kartoffelacker gekommen ist, ist mir im Nachhinein ein Rätsel. Vor Schreck fiel mir das Herz fast in die Hose, ich spürte, wie das Blut aus dem Gesicht wich, und dann wurde mir heiß – meine Gesichtsfarbe wechselte wohl aus Scham von Weiß auf Rot. Mama muss meinen Schock gespürt haben, denn sie war plötzlich ganz lieb, begann zu schmunzeln und meinte, ich könne ihr gleich bei der Ernte helfen. Denn heute gebe es zum Weihnachtsfest echte, frische Bratkartoffeln! Leute, ich schmelze dahin bei dem Gedanken, im Geiste steigt mir schon der Duft in die Nase. Wir ernteten also an die zwei Kilo Erdäpfel, und weil Mama keine Ahnung hatte, was ich nebenbei gerade verstohlen machte, stieg in mir langsam das schlechte Gewissen hoch. Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt das eigentliche Verbrechen noch gar nicht begangen.

So, jetzt habe ich also meinen Bericht geschrieben und mich dabei beruhigen können. Ich bin jetzt durchaus zufrieden. Denn der erste Teil meines Plans ist abgehakt: Ich habe erfolgreich in meinem Hosensack eine schöne Handvoll Erde mitgenommen.

Jetzt kommt Teil zwei. Der ist in der Tat heikel. Wenn herauskommt, was ich mit der Erde vorhabe, bin ich erledigt. Dann kommt die Polizei, wirft mich hinaus ins Freie und ich bin vaporisiert. Für die Unkundigen – das ist so was Ähnliches wie die Steigerungsform von liquidiert. Physikalisch gesehen wäre es sogar ziemlich zutreffend. Zum Glück gibt es bei uns keine Polizei.

Ich habe trotzdem lange gegrübelt, ob es Gründe zu echter Sorge geben könnte. Ich glaube aber, dass ich keine Angst haben muss. Die Sicherheitsleute vom Forschungsprojekt können ja nicht ahnen, dass jemand so etwas wagt. Und was sollen sie mir später tun, wenn mein Vorhaben zu Ende geführt ist? Rückgängig machen kann es dann niemand mehr.

Nun, lang genug auf die Folter gespannt, jetzt wird das Geheimnis gelüftet: Mit diesem Brief bekommt Ihr, meine lieben Freunde, ein bisschen Erde von unserem Kartoffelacker, schön verpackt in einem Säckchen, und gut flachgedrückt, damit es im Brief nicht auffällt. Ich hoffe sehr, dass euch klar ist, dass die paar Krümel Erde bei euch im wahrsten Sinn des Wortes Goldes wert sind. Lieber Mohammed, du hast jetzt eine große Verantwortung. Du musst dafür sorgen, dass jeder seinen Anteil kriegt, und am liebsten hätte ich, dass auch jeder meinen Brief im Original lesen kann. Wenn ich mir schon beim Schreiben so eine Mühe gemacht habe!

Leute, mein Herz klopft schon wieder, denn ich sehe draußen ein helles Licht, das langsam größer wird. Der Christbaum wird anscheinend geliefert. Und wohl auch noch ein paar andere Sachen. Vielleicht ist mein Teleskop dabei? Ich habe gehofft, die Lieferung kommt schon ein paar Tage vor Weihnachten. Dass die ausgerechnet am Weihnachtsabend kommen, ist eigentlich blöd, weil meistens kommen drei Leute mit, die dann ein paar Tage bei uns als Gäste bleiben. Jetzt werden die also bei uns herumhängen, womöglich auch noch bei der Bescherung. Andererseits ist es okay, vielleicht haben die was Interessantes zu erzählen. Ich werde sie bitten, dass sie den Brief mitnehmen und ihn in den nächsten Postkasten werfen. Schade, dass ihr dadurch meinen Brief erst ein paar Tage nach Weihnachten bekommt!

So, ich muss jetzt mit dem Schreiben aufhören. Mein Brief muss schleunigst versiegelt werden.

Tut mir leid, liebe Freunde, bei den letzten Zeilen werde ich jetzt sentimental. Ich glaube, eine Träne kitzelt mich auf der Wange. Wäre es nicht schön, wenn wir alle endlich wieder beisammen sein könnten? Drei Jahre müssen wir noch warten, wenn bei unserem Projekt alles nach Plan verläuft. – Aber was soll‘s? Es sind halt schwierige Zeiten! Ich werde es schon noch aushalten. Im Moment tröste ich mich gerade mit einem großartigen Anblick, der mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Ein Anblick, der euch verwehrt ist. Durch das Fenster über meinem Schreibtisch sehe ich, wie die karge Steinlandschaft da draußen immer finsterer wird. Und vor dem schwarzen, glitzernden Sternenhimmel steht als wunderbare blaue Sichel unsere Erde.

Frohe Weihnachten Euch allen!

© Peter Lorenz Karanitsch, Dezember 2021

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