Die Vorlesung
Es ist kurz nach neun Uhr, als ich das Universitätsgebäude betrete. Ich weiß, ich bin früh dran, die Vorlesung beginnt erst um zehn. Wie jeden Tag bewundere ich das schöne alte Gebäude, während ich das großzügige, breite und mit Stuck verzierte Treppenhaus hinaufsteige. Auf meinem Weg zum Hörsaal begegne ich kaum jemandem, bloß eine Reinigungskraft schlurft mir den Gang entgegen. Unter ihrem grauen Arbeitsmantel sehe ich einen schwarzen, bodenlangen Rock, die Füße stecken in ausgetretenen, billigen Schuhen. Ihr Gesicht ist kaum zu erkennen, es ist grau und faltig, ein paar dicke Barthaare zeugen von mangelnder Körperpflege. Ich stelle mir vor, wie sie nackt aussieht.
An der linken Seite des langen Ganges liegen die Eingänge zu den Seminar- und Unterrichtsräumen, dazwischen Gedenktafeln oder Büsten berühmter Professoren. An der rechten Seite befindet sich eine Reihe riesiger Kastenfenster, aus uraltem Eichenholz, oben zu eleganten Bögen geformt. Die junge Vormittagssonne wirft den Schatten der Fensterkreuze auf den Boden. Warum macht man heute nicht mehr solche Fenster? Weiter vorne ist ein Flügel offen, ich lehne mich auf die Fensterbank, blicke hinunter in den Garten. Erst jetzt bemerke ich, wie schmutzig die Fenster sind, zwischen den Scheiben liegt Taubenkot und die Glasflächen sind verstaubt und verschmiert. Warum kümmert sich die Putzfrau nicht darum? Ich drehe mich um und rufe ihr zornig hinterher, sie solle samt ihrem Kübel und den Putztüchern kommen, um den Sonnenstrahlen den Weg zu öffnen. Doch sie reagiert nicht. Ich rufe lauter, meine Stimme dröhnt in meinem Kopf. Unbeirrt geht sie weiter, dreht sich nicht einmal um. Hört sie mich denn nicht?
Ein Mann mit blauem Arbeitsmantel sperrt die beiden großen Hörsaaltüren auf und lässt den rechten Flügel der Doppeltüren offenstehen. Ich wähle die rechte Saalseite und trete in den Hörsaal. In einem großen Bogen sind die Sitzreihen angeordnet, in mehreren Stufen untereinander, von jedem Eingang aus führt eine Treppe hinab. Unten befindet sich das breite Podest für den Vortragenden, darauf ein mächtiges Pult, es nimmt gut ein Drittel der Saalbreite ein. In der Mitte lenkt eine Tischlampe aus Messing mit einem grünen Schirm die Aufmerksamkeit auf sich. Eine auffällige Antiquität. Dahinter thront die alles dominierende riesige grüne Tafel. Wenigstens die ist sauber geputzt.
Langsam gehe ich durch die Reihen. Mir fällt auf, dass in einigen Abständen auf den Schreibflächen Zettel liegen, Namen stehen darauf. In der vorletzten Reihe finde ich tatsächlich ein Blatt, auf dem mein Name steht. Seltsam, ich habe eine Vorlesung erwartet und keine Prüfung. Mit einem unguten Gefühl setzte ich mich, warte, was geschieht. Die Zeit scheint stillzustehen, doch dann füllt sich nach und nach der Saal mit jungen Menschen, da und dort auch mal ein älterer Herr. Unter dem Strom der Leute kann ich eine einzige junge Frau erkennen, die schließlich ganz unten in der ersten Reihe ihren Platz findet. Mit elegantem Schwung wirft sie ihre blonde Haarmähne über die Schulter, alle starren sie an. Zwei Reihen schräg vor mir entdecke ich jemanden, den ich von früher kenne. Ein kluger Kerl, ein Streber, mit dem nie jemand richtig warm werden konnte. Liegt es an der Hässlichkeit seines narbenzerfurchten Gesichts, oder an seiner Intelligenz? Oder liegt es an seinem sozialen Umfeld, das ihn wegen seiner Hässlichkeit zum Außenseiter gemacht hat? Wer weiß, vielleicht haben ihn gerade diese Umstände zu geistigen Höchstleitungen getrieben? Ursache und Wirkung werden wohl immer im Verborgenen bleiben.
Bald sind alle Plätze besetzt, ein leises Flüstern erfüllt den Hörsaal, bis die beiden Saaleingänge mit einem lauten Geräusch geschlossen werden. Fast gleichzeitig öffnet sich tief unten neben der monströsen Tafel eine verschwindend kleine und unauffällige Tür. Ein dicker Typ mit weißem Mantel tritt ein und wuchtet sich auf das Podest. Alle klopfen mit den Knöcheln auf die Tischflächen, auch ich schließe mich dem an. Ich bin überrascht, dass nicht gesprochen wird, der Vortragende verneigt sich nur kurz und wendet sich sofort der Tafel zu. Mit weißer Kreide beginnt er ein riesiges Quadrat zu zeichnen, er unterteilt es dann in weitere, bis das Ganze wie ein großes Schachbrett aussieht. Ich sehe, dass alle Studenten auf ihrem Papier das Gleiche tun. Ich bemühe mich, schöne gerade Striche zu ziehen. Als ich wieder hochblicke, erkenne ich, dass der Vortragende bereits einige Quadrate ausgefüllt hat. In jedem Feld hat er einen Pfeil gezeichnet, daneben steht eine Formel. Ehe er ein weiteres Feld ausfüllt, weist er mit der Hand auf die angrenzenden Quadrate, sie scheinen auf irgendeine Weise mathematisch miteinander verbunden zu sein. Ich verstehe die Zusammenhänge nicht und übertrage folgsam alles auf mein Blatt.
Es scheint nicht egal zu sein, wie die Pfeile eingezeichnet werden. Es gibt welche, die nach oben zeigen oder nach links, nach unten oder nach rechts. Und es ist offenbar auch nicht egal, ob sie in den Quadraten links oder rechts oder oben oder unten positioniert werden. Der Vortragende hat jetzt Schritt für Schritt die halbe Tabelle ausgefüllt, er wendet sich nun von der Tafel ab und legt die Kreide auf das Pult. Plötzlich spürt man die Spannung im Saal – es ist, als ob man in einem elektrischen Feld säße. Ich sehe, wie der dicke Kerl auf die junge blonde Frau in der ersten Reihe zeigt. Sie erhebt sich, begibt sich mit federndem Schritt an die Tafel. Eine schöne Frau, kurz sehe ich ihr Profil mit wohlgeformten Lippen, gerader Nase und steiler Stirn. Selbstsicher. Was für eine Traumfrau. Wie mag sie sich jetzt wohl fühlen, da vorne an der Tafel? Sie hebt die Kreide, schreibt eine Formel und zeichnet zwei Pfeile. Es ist das erste Feld, in dem nicht einer, sondern zwei Pfeile eingezeichnet werden. Sie dreht sich um, ihre blaugrünen Augen blitzen, als sie ihren Blick über die Zuschauerränge schweifen lässt und elegant zu ihrem Platz zurückschreitet. Der dicke Vortragende nickt, die Anwesenden klopfen begeistert auf die Tische.
Was schreiben die Studenten auf ihre Blätter? Sind sie so ahnungslos wie ich, oder durchschauen sie das komplizierte System? Ich fasse den Mut, mich zu erheben und bewege mich langsam durch die Sitzreihen. Ich bin sicher, dass dies streng verboten ist. Doch niemand scheint von mir Notiz zu nehmen. Ich gehe bis an die andere Seite des Saals, beuge mich über viele Schultern, sehe, dass manche kaum etwas geschrieben haben.
Mein Blick wandert über die Reihen. Seltsam, drüben auf meinem Platz sitzt jemand. Bin ich das? Jetzt winkt die Person. Erregt eile ich zurück an meinen Platz, doch er ist jetzt wieder frei. Mir fällt auf, dass mein Quadrat noch immer unfertig ist. Ich beuge mich über das Blatt und beginne, eine weitere Linie zu zeichnen. Schön gerade muss sie sein.
Eine Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit, ich schaue auf und sehe, wie zwei Reihen unter mir der vernarbte Streber mit beiden Armen heftig winkt, als der Vortragende wieder fragend in die Runde blickt. Nur wenige andere zeigen auf, doch das Narbengesicht hat sich mit seinem aufgeregten Fuchteln durchgesetzt. Er springt mit Riesenschritten die Stufen hinab und ergreift begierig die Kreide. Der fette Vortragende weicht zurück, er ist wohl überrascht von der Vehemenz des seltsamen Studenten. Viele Felder sind nun ausgefüllt, der Streber kombiniert wortlos mehrere von ihnen mit seinen Gesten, schreibt in sein Feld eine neue Formel. Und er ist der erste, der dort nun drei Pfeile einträgt. Applaus brandet auf, als er einige Schritte zurücktritt und die fast fertige Tabelle betrachtet. Verstohlen blicke ich auf die Hörsaaluhr, zwei Stunden sitze ich nun schon hier.
Ich fühle mich zunehmend unwohl und verspüre einen unwiderstehlichen Drang, aufs Klo zu gehen. Langsam erhebe ich mich, steige die wenigen Stufen hinauf, öffne leise die Hörsaaltür und trete hinaus auf den Gang. Wo sind die Toiletten? Habe ich sie nicht ganz vorne gesehen? Der Gang erscheint mir endlos lang, Sonnenlicht umflutet mich, ich sehe auf dem Steinboden die Schatten der Fensterkreuze vorbeiwandern. Endlich finde ich das WC. Enttäuscht muss ich feststellen, dass es das Damenklosett ist. Obwohl niemand da ist, wage ich es nicht, es zu betreten. Bauchschmerzen plagen mich und meine Blase drückt entsetzlich. Ich eile den Gang zurück an das andere Ende, finde das Herrenklo. Ein übler Geruch schlägt mir entgegen, die Wände sind mit Schriften und ordinären Zeichnungen beschmiert. Angeekelt verlasse ich die Kabine, die Muschel ist verdreckt und mit Exkrementen verschmiert. Im Vorraum uriniere ich in das Waschbecken.
Als ich den Gang wieder betrete, fühle ich mich wie ein Kind, das etwas Schlimmes angestellt hat. Ich muss an die Putzfrau von vorhin denken. Ob sie für die Toilette zuständig ist? Weiter vorne sehe ich das offene Fenster. Ich begebe mich nochmals dorthin, blicke in den schönen Garten, atme tief die frische Luft und lasse sie entspannt aus meiner Lunge entweichen. Dann wende ich mich ab und gehe langsam zur Hörsaaltür.
Ich muss da wieder hinein.
Im Saal ist die Luft mittlerweile stickig geworden. Als ich zu meiner Bankreihe gehe, sehe ich, dass sich das Narbengesicht soeben von meinem Platz erhebt. Ich winke ihm zu, doch er geht kommentarlos die beiden Reihen hinunter und setzt sich auf seinen Platz. Überrascht erkenne ich, dass die Tabelle auf meinem Zettel nun vollständig ausgefüllt ist. Wie nett von ihm. Langsam und leise setze ich mich, mache mich möglichst klein, um nicht bemerkt zu werden. Ich riskiere keinen Blick hinab zur Tafel, betrachte lieber die gegenüberliegenden Reihen. Es ist mir unangenehm, alle dort drüben blicken mich an. Ich weiß nicht, was ich tun soll und starre zurück.
Zaghaft klopfen einige auf die Pulte, rasch stimmen alle anderen mit ein. Es ist wohl eine Aufforderung, direkt an mich gerichtet. Nun schweift mein Blick doch noch hinunter. Wie befürchtet fixiert mich der dicke Vortragende und deutet unmissverständlich, ich solle an die Tafel kommen. Ich falte mein Blatt zusammen, erhebe mich, mit schwachen Beinen steige ich die Stufen hoch zur Saaltür. Der Mann mit dem blauen Mantel steht da, mit ausgebreiteten Armen lässt er mich nicht durch, drängt mich zu den Hörsaalstufen. Unwillig, wie in Trance, steige ich hinab, bekomme die Kreide in die Hand gedrückt. Verstört stehe ich jetzt vor dem letzten leeren Feld der Tabelle. Schließlich fasse ich den Mut, falte mein Blatt auseinander und sehe nach, was das Narbengesicht eingetragen hat. Ich male es nach. Einen Kreis, im oberen Bereich zwei Punkte, darunter ein waagrechter, gebogener Strich. Hinter mir im Hörsaal ertönt schallendes Gelächter, ich drehe mich um, plötzlich muss auch ich lachen, es bricht aus mir heraus, ich kann mich nicht beruhigen. Es schüttelt mich, bis ich erschöpft bin und verstumme.
Mit einem Schlag tritt auch im Saal Ruhe ein. In der Stille höre ich, wie sich mit einem leisen Geräusch die kleine weiße Tür neben der Tafel öffnet, eine Frau tritt ein. Wie der Vortragende hat auch sie hat einen weißen Mantel an. Sie tritt auf mich zu, nimmt mich freundlich an der Hand mit den Worten „Sie Armer, kommen Sie doch mit!“ Es sind die ersten Worte, die ich höre, und sie sind Balsam auf meine Seele. Ich fühle mich erleichtert, wie aus einem Traum befreit. Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick über die leeren Bankreihen schweifen. Dann folge ich ihr gehorsam aus dem Hörsaal hinaus auf einen hellen, weißen Gang. Auch hier sind an der einen Seite eine Reihe von Türen, an der anderen die Fenster. Die Sonne scheint herein. Wir gehen Hand in Hand, mit gesenktem Kopf beobachte ich, wie die Schatten der Fenstergitter langsam vorüberziehen. Die Putzfrau kommt uns entgegen, im Vorbeigehen wirft sie mir einen bösen Blick zu. Meine Begleiterin wendet sich nochmals an mich und flüstert: „Mein Gott, was haben sie da vorhin bloß angestellt?“
Weiter vorne steht wieder eine Tür offen. Wir gehen hinein, in einem Spiegel sehe ich mein bleiches Gesicht, das weißes Hemd hat hässliche Flecken. Wie peinlich! Schreckliche Kopfschmerzen plagen mich, ich bekomme zwei rosafarbene Tabletten. Die würden mir guttun. Langsam wird es dunkel.
Es ist spät am Nachmittag. Ich sitze im Garten auf einer Bank, die Sonne scheint mir warm auf den Rücken, der blühende Kirschbaum duftet, Bienen summen und eine Amsel singt ihr fröhliches Lied. Ich fühle mich jetzt besser, blicke hoch zu den großen Fenstern mit den schönen Bögen. Der Fensterflügel steht noch immer offen.
Wenn ich darf, werde ich morgen wieder zur Vorlesung gehen.